Am dritten Bettag

 

Morgenpredigt im Jahre 1856

 

Aber der feste Grund Gottes besteht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die Seinen; und: Es lasse ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen des Herrn nennt. 2. Tim. 2,19

 

 

Anhand des gelesenen heiligen Textes wollen wir durch die Gnade Gottes die richtigen Merkmale eines wahren Christen untersuchen: erstens, in Hinsicht auf seinen Glauben, und zweitens in Hinsicht auf sein Leben. Wenn der Apostel sagt: “Der feste Grund Gottes besteht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die Seinen”, so ist es klar, daß die Welt die Christen nicht kennt; weder vom Glauben noch vom Leben her, denn der Glaube der Christen ist der Welt verborgen. Und was das Leben der Christen betrifft, so finden wir mehrere Argumente in der Bibel, in der festgestellt wird, daß das heilige Leben des Heilands der Welt nicht zusagte, denn die Pharisäer fanden viele Fehler im Leben des Heilands. Die strengere Lebensweise Johannes des Täufers gefiel auch nicht, und die weniger strenge Lebensweise des Heilands gefiel ebenfalls nicht; die beiden waren vom Teufel besessen [sagte die Welt]. Die Welt haßte beide. Der Heiland selbst wurde als Verführer des Volkes betrachtet, und alle seine Nachtfolger nannte man Sektierer des Nazareners. Wie kann also ein Christ, der wirklich zu diesem Haufen gehört, anders genannt werden als Fanatiker und Verführer? Es ist aber Gott, der die Seinen kennt, wenn die Welt sie nicht kennt. Dagegen denken die Ungläubigen, daß das wahre Christentum so sein muß, daß es der Welt gefällt. Es wäre aber ein schlechtes Christentum, wenn es lieb für die Welt wäre, weil es dann ein weltliches Christentum wäre. Wenn wir aber aus dem Gotteswort ersehen, daß das wahre Christentum in der Welt immer gehaßt wurde - immer, seit der Zeit Abels bis in unsere Zeit - so soll niemand glauben, daß das Christentum, das von der Welt gepriesen und gelobt wird, das richtige Christentum ist. Lieber wollen wir das wahre Christentum unter jenen suchen, die von der Welt Scheinheilige,  Ketzer und Fanatiker genannt werden, weil die Welt die wahren Christen nicht unter irgendeinem anderen Namen kennt. Wenn es auch unter den wahren Christen Scheinheilige, Falsche, Fanatiker und Verführer gibt, die schon in den Gemeinden des apostolischen Zeitalters vorkamen, so kann die Welt keinen Unterschied zwischen ihnen machen. Sie betrachtet vielmehr alle gleich und bezeichnet sie alle als Falsche, Fanatiker und Verführer - gleichgültig, ob sie aus Jerusalem oder Wittenberg stammen. Und je mehr die Welt die Christen verachtet, verhöhnt und haßt, desto mehr verhärtet sie sich.

Da die Welt die wahren Christen nicht an ihrem Glauben erkennt, den die Welt als Wahnsinn betrachtet, so müssen wir hinzufügen, daß eins unter mehreren Merkmalen des wahren Christentums gerade dieser Haß, diese Verachtung, Verhöhnung und Verfolgung ist, worunter wahre Christen seit jeher leiden. Wenn jemand all das leben würde, was nach der Bergpredigt Jesu das wahre Christentum ausmacht - geistliche Sorge, geistliche Armut, geistliche Sanftmut sowie Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit -, aber das achte Merkmal der Seligkeit fehlte - nämlich die Verfolgung -, so wäre es noch kein vollständiges Christentum. Wenn wir jetzt zeigen sollten, was das wahre Christentum ausmacht, so würde die Welt - nicht anders als seinerzeit die Juden - die Gleichnisse Jesu nicht begreifen. Die weltlichen Menschen würden sich nur wundern und nichts davon mit ihrer Vernunft verstehen. Es lag auch nicht in der Absicht des Heilands, daß die Welt es nur mit Hilfe der Vernunft begreift, wenn dabei das Herz leer bliebe, denn er sagte seinen Jüngern: “Euch ist’s gegeben, zu wissen die Geheimnisse des Reiches Gottes, den anderen aber in Gleichnissen, auf daß sie es nicht sehen, ob sie schon sehen, und nicht verstehen, ob sie es schon hören.” (Lk. 8,10) Also nur die Jünger Jesu wissen, kennen und erleben etwas. Aber auch sie können es nur teilweise wissen, denn die Versöhnung mit Gott ist ein großes Geheimnis, das auch die Engel zu sehen verlangen. Wenn jetzt auch die Engel noch mehr vom Geheimnis der Versöhnung zu sehen wünschen, so ist es kein Wunder, wenn der große Apostel Paulus, der doch die Kraft der Versöhnung in seinem Herzen fühlte und erlebte, von sich selbst bekennen mußte: “Nicht, daß ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen möchte.” (Phil. 3,12) Der Mensch ist willig, etwas Neues zu wissen, und er möchte gern alles begreifen, was er fühlt, was aber unmöglich ist. Deshalb kann man auch das wahre Christentum nicht mit der Vernunft begreifen, also in Worten einem anderen erklären, auch wenn man darüber viel redete und schriebe. Sicher bleibt es der Welt ein Geheimnis. Nur Jesu wahre Jünger, also Christen, erhalten die Gnade, das Geheimnis des Reiches Gottes zu begreifen. Wenn wir also beginnen würden zu schildern, was das wahre Christentum ist, so sollten wir auslegen, was die richtige Liebe ist. Wenn wir sagten, daß die wahre Liebe ein lebendiges Gefühl ist, so würde daraus nichts klar werden; niemand anders als derjenige, der selbst die Wirkung der richtigen Liebe erlebte, kann sagen, was sie ist. So ist es auch mit dem Christentum: niemand anders als derjenige, der es erlebte, kann sagen: “Ich kenne dieses Geheimnis.” Das Christentum ist nämlich eine Sache des Herzens und des Fühlens - und nicht der Vernunft. Deshalb müssen wir der Welt nur einige Merkmale zeigen. Hierzu gehören Reue, Buße, Sorge, Gewissensqual, Grübeln und geistliche Freude, die die Welt als verrückt betrachtet, weshalb sie das Christentum auch haßt. Wenn die Welt die obengenannten Merkmale als Kennzeichen des wahren Christentums beachtete, so müßte die Welt auch jene als Heiden ansehen, die so etwas nicht erlebt haben. Die Welt kann gar nicht glauben, daß so etwas zum wahren Christentum gehört. [] Die Welt kümmert sich nicht um die Sorge und Qual der Christen, nicht um die Gewissensqual und Sorge der Herzen der Christen, sie kümmert sich weder um die Freude noch das Weinen der Christen; sie kümmert sich nicht um die Überlegungen Luthers, nicht um seine Versuchungen, und nicht um den Kampf in seiner Lebenswanderung. Sie kümmert sich nicht um die wegen des Christentums erlittenen Qualen oder Schmähungen, die den Christen oder Luther zugefügt wurden. Die Welt schaut dagegen nur auf ihr Leben.

Und im Leben der Christen sieht die Welt so viele Fehler, so viel Unnötiges und so viel Verderben, daß es ihr unmöglich ist, diejenigen als Christen anzuerkennen, in deren Leben so viel Sünde, so viele Fehler und Mängel sind. Die Welt denkt, daß die Christen ganz rein und sündenfrei wie Engel sein sollten. Aber die Christen haben nie gesagt, daß sie sündenfrei seien. Sie verfügen vielmehr nur über den Glauben, daß sie vom Urteil befreit sind; die Christen besitzen den Glauben, daß ihre Sünden vergeben sind; aber dieser Glaube macht nur dann selig, wenn sie nicht nur glauben, sondern auch fühlen, daß sie begnadet sind. Der tote Glaube vermutet auch, daß die Sünden vergeben sind; aber weil er kein lebendiges Gefühl als Versicherung im Grunde der Herzen hat, so befindet er sich nur im Kopf. Darum wird so ein Glaube als tot bezeichnet. Dagegen wohnt der lebendige Glauben im Herzen, in den lebendigen und seligen Gefühlen. Ein Christ kann nicht glauben, daß er selig ist, wenn er nicht wenigstens zeitweise fühlt, da er begnadet ist. Diese seligen Gefühle sind ein Beweis des Heiligen Geistes für den Gnadenzustand. Aber die Welt weiß nichts von alledem. Darum schaut sie nur das Leben der Christen an, und dieses Leben ist keineswegs ohne Fehler und Mängel; aber es ist doch hauptsächlich ein Leben ganz anderer Art als das Leben der Welt. Es bestand ja auch zwischen dem reichen Mann und Lazarus eine große Kluft, über die niemand gehen konnte. Es geschieht oft, daß das, was von der Gnadenwirkung Gottes unmittelbar zeugt, in der Welt als Wahnsinn betrachtet wird. Und warum blickt die Welt nur auf das Leben der Christen? Ja, deshalb, weil die Welt keine andere Ursache der Seligkeit kennt als die Selbstgerechtigkeit, die der Welt die Augen so klarsichtig macht, daß sie die Fehler im Auge des Bruders sehen kann, aber nicht den Balken im eigenen Auge. Darum erhalten sie vom Gott dieser Welt das Recht, zu saufen, zu verfluchen, Schankwirtschaft zu treiben und Karten sowie Ball am Sonntag zu spielen. All dieses heidnische Leben ist nach Meinung der Welt keine Sünde, weil es Sitte ist, und daher macht man es. Wenn aber ein  Christ im Jähzorn oder aus Schwäche eine Übertretung begeht, freuen sich die Engel des Teufels sehr; diese Geister der Finsternis freuen sich am Fall eines Christen. Ihr Neid kennt ja keine andere Freude als die Freude am Unglück und Fall eines anderen - so wie der schwarze Geist des Neides eine teuflische Freude fand, als es ihm gelang, das jüngste Kind des himmlischen Vaters zu verführen. So freuen sich heute immer noch alle Dienstgeister des Satans am Fall eines Christen. Diese Freude kann sie aber nicht in der Ewigkeit selig machen, denn je mehr Gefallene es gibt, desto größer wird ihre Qual im Reich der Finsternis, da auch die Gefallenen über ihren Verführer fluchen müssen, obwohl diese jetzt über ihr eigenes Unheil lachen. Die Welt trägt also kein Leid um den Fall der Christen, sondern sie freut sich darüber. Wir wollen sehen, wie lange die Freude dauert - vielleicht eine halbe Minute - aber dagegen wird die Qual, die sie in der Brust tragen, die ganze Ewigkeit dauern.

Wenn wir jetzt das wahre Christentum im Hinblick auf den Glauben betrachteten, so kann man dafür keine anderen Merkmale nennen, als die, die der Apostel im Text unseres Feiertages gegeben hat - daß also der Herr die Seinen kennt; denn die Welt kann die Christen nicht an ihrem Glauben erkennen. Die Christen erkennen sich jedoch einander daran. Gott gab den Christen das Licht seines Heiligen Geistes, damit sie den Glauben untereinander prüfen können. Außerdem haben wahre Christen die Macht erhalten, die Sündenvergebung zu verkündigen. Die Christen könnten diese Macht nicht besitzen, wenn sie nicht wüßten, in welchem Seelenzustand der Mensch sein muß, bevor ihm seine Sünden vergeben werden können. Er muß im selben Seelenzustand sein wie der reumütige Räuber am Kreuz und der Lahme, der zu Jesus gebracht wurde, oder wie die reumütige Frau, die Jesu Füße mit ihren Tränen befeuchtete oder wie die Jünger, die nach dem Tode des Heilands weinten und heulten. Der Mensch muß in einen ähnlichen Seelenzustand geraten, bevor er die Sündenvergebung entgegennehmen kann. Die Sündenvergebung dagegen, die einem unbußfertigem Sünder verkündigt wird, hat keine Wirkung; darauf folgt keine Freude. Und wenn ein Unbußfertiger glaubt, daß seine Sünden vergeben sind, so hat er einen toten Glauben. Gegen diesen toten Glauben stellt der Apostel Jakobus gute Werke. Er tut dies nicht deshalb, weil irgendjemand Gottes Gnade und Sündenvergebung mit seinen guten Taten verdienen könnte, sondern weil die Taten aus dem lebendigen Glauben kommen. Wenn wir das Christentum mit dem Maß der Selbstgerechtigeit messen, so könnte keine einzige Seele gerettet werden. Die Welt müßte dann nämlich nicht nur sagen, daß nicht einmal in der apostolischen Zeit das wahre Christentum existiert hätte, sondern daß auch alle heutigen wahren Christen, die vom ganzen Herzen nach der Rettung ihrer Seele suchen, in der Verzweiflung versinken müßten, um anschließend festzustellen: Es ist ganz unmöglich, mit einem so üblen und sündigen Herzen selig zu werden, denn die Selbstgerechtigkeit verlangt nach dem Gesetz Gottes ein ganz reines Herz, bevor sie einem Reumütigen erlaubt, zum Heiland zu kommen. Die Selbstgerechtigkeit ist so streng, daß sie keine einzige Seele in das Himmelreich hineinläßt, die nicht ein reines Herz hat. Es ist wahr, daß der Christ ein reines Herz haben soll, wenn es in Jesu Blut gereinigt ist. Man soll dies aber nicht so verstehen, daß der Christ ein sündfreies Herz besitzt, sondern die geistliche Reinigung muß so verstanden werden, daß der Christ ein vom Urteil befreitet Herz und ein reines Gewissen hat. Das heißt: ein Herz, das von der Schuld und der Strafe der Sünde gereinigt wurde, und ein Gewissen, das rein von üblen Taten ist. Gerade hier steht die Selbstgerechtigkeit durch die Vernunft auf, um Luthers Lehre vom Glauben ohne Taten zu widerstehen, und fragt: wie kann der Mensch mit einem sündigen Herzen glauben? Ja, gerade hierin besteht das Geheimnis des Glaubens, daß der Glaube ohne Taten sowohl gerechtmachend als auch seligmachend ist. Das ganze Papsttum und viele Diener der Selbstgerechtigkeit aus der Kirche Luthers stehen gegen diese Lehre auf, denn die Vernunft kann nicht begreifen, wie der Glaube allein - ohne Taten - gerecht und selig macht. Derselbe Mann lehrt ja, daß der Glaube ohne Taten tot ist. Aber laßt uns bemerken, daß der Apostel Paulus vom lebendigen Glauben spricht, dagegen Jakobus vom toten Glauben redet. Der lebendige Glaube ist ohne Taten seligmachend, aber der tote Glaube ist dies weder mit noch ohne Taten, weil die Taten des toten Glaubens aus einer schmutzigen Quelle kommen und nur ein Schatten sind. Dagegen sind die Werke des lebendigen Glaubens nach Meinung der Welt oft sündig - wie zum Beispiel die Strafpredigten Johannes des Täufers und die harten Züchtigungen des Heilands, von denen man glaubte, daß sie vom geistlichen Stolz herrühren. So betrachtete man auch im Papsttum den Tadel Luthers an den Oberhäuptern der Welt als ein Werk des Feindes. Was jetzt vom Glauben gesagt worden ist, finden wir hier im heutigen Text: “Der feste Grund Gottes besteht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die Seinen.” Und was von den Taten gesagt ist, steht auch in unserem Text: “Es trete ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen des Herrn nennt.” Den ersten Teil kann die Welt nicht verstehen; den zweiten Teil will die Welt den Christen entgegenhalten, obwohl die Stelle solche Namenschristen meint, die das Christentum zwar bekennen, es jedoch aber hassen, wenn es verlangt, das Böse zu verlassen, das man mitten im Christentum betreibt - wie Saufen, Verfluchen, Unzucht, Stolz, Gier, Neid, Verleumden, geistlicher Haß gegen die Christen, allerlei sündige Vergnügen und Zeitvertreib wie das Karten- und Ballspiel am Sabbat, Verachtung des Gotteswortes und Lästerung der heiligen Dinge. Wenn wir jetzt das wahre Christentum mit dem falschen Namenschristentum vergleichen, das sich nun überall in der Welt befindet, so müssen wir uns vor dem elendigen Zustand hüten, in dem die Christenheit verharrt. Wir wollen mit David klagen: “Hilf uns, Herr, denn Heilige sind wenige.” Ja, es sind wenige, die irgendeine wahre Sorge nach dem Gefallen Gottes und nach der Seligkeit ihrer Seelen haben. Die meisten lästern Gott mit ihrem gottlosen und verdorbenen Leben - und es sind wenige, die noch die Nähe des Herrn suchen. Wenn jene, die in Christo getauft sind, sich nicht bessern, so fürchte ich, daß sie es in der Ewigkeit bereuen müssen.

 

Amen.